
Achtung, Ablenkung! Wie Kinder den Straßenverkehr wahrnehmen
Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer erklärt im Interview, wie sich die Sinneswahrnehmungen von Kindern verändern, wie man sie gut auf den Schulweg vorbereitet und wo auch Erwachsene aufpassen müssen.
Kinder nehmen ihre Umwelt anders wahr als Erwachsene. Wenn es um Verkehrssicherheit geht, ist das Wissen um die kindlichen Wahrnehmungsfähigkeiten essenziell. Schon allein ihre Körpergröße ist von Bedeutung. Ihr Blickfeld ist nicht so groß wie das eines Erwachsenen und ihre Blickstandshöhe ist niedriger. Ihre visuelle Wahrnehmung ist generell noch in der Entwicklung. Beispielsweise erkennen Erwachsene herannahende Autos durch die perspektivische Tiefenwahrnehmung, diese bildet sich aber erst ungefähr bis zum Ende der Volksschule heraus.
Frühestens mit 12 bis 14 Jahren erreichen Heranwachsende in puncto Wahrnehmungsfähigkeiten Erwachsenenniveau. Was bedeutet das für Kinder, die allein von der Schule nach Hause unterwegs sind? Wie gehen sie mit Gefahren im Straßenverkehr um und auf was reagieren sie besonders? Welche Gefahren nehmen Kinder weniger wahr als Erwachsene, und wie kann man Kinder am besten auf den Schulweg vorbereiten? Das haben wir Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer im Interview gefragt.
sichereswissen: Mit Begleitung/Ohne Begleitung: Wie können Kinder gut auf ihre Wege vorbereitet werden?
Schützhofer: Wir empfehlen als Vorbereitung unser 5-Schritte-Programm. Bei Schritt 1 erklärt der Erwachsene dem Kind, worauf es in einer bestimmten Situation warum achten soll. Bei Schritt 2 erklärt das Kind der Begleitperson, was es in einer bestimmten Situation wahrnimmt und wie es sich verhalten wird. Auf diese Weise kann überprüft werden, ob das Kind auf alle verkehrsrelevanten Dinge achtet und diese auch richtig einschätzen kann oder ob nachgeschärft werden muss. Wenn Schritt 2 gut funktioniert, kann das Kind ein Stück des Weges vorangehen und der Erwachsene beobachtet es dabei (Schritt 3). Klappt dies auch, kann man beginnen, nur mehr einen Teil des Weges gemeinsam zu gehen und das Kind einen Teil des Weges bereits unbegleitet gehen zu lassen (Schritt 4). Der letzte und 5. Schritt ist dann das vollständige selbständige Zurücklegen eines Weges.
Das Team von www.mein-sicherer-schulweg.at erklärt in 8 Videos, worauf Kinder und Eltern achten sollen und was es mit der kindlichen Wahrnehmung auf sich hat:
sichereswissen: Was lenkt Kinder am meisten ab? Was lenkt Erwachsene am meisten ab?
Schützhofer: Die Ablenkungsquellen sind ab Ende der Volksschulzeit sehr ähnlich. Während jüngere Kinder sich zum Beispiel noch gerne von glänzenden Kastanien ablenken lassen, dominiert an äußeren Ablenkungsquellen spätestens ab der vierten Klasse Volksschule das Smartphone. An inneren Ablenkungsquellen müssen Tagträumen und Nachdenken − über Dinge, die einen gerade beschäftigen − genannt werden. Auch diese sind altersunabhängig.
sichereswissen: Wie steht es um die Gefahrenwahrnehmung? Ist die kindliche Gefahrenwahrnehmung der von Erwachsenen gleichzusetzen?
Schützhofer: Nein. Ein Gefahrenbewusstsein entwickelt sich bei Kindern erst nach und nach. Kinder im Kindergartenalter haben noch kein Gefahrenbewusstsein. Kinder zu Beginn der Volksschulzeit erkennen Gefahr erst, wenn sie bereits akut ist und nicht mehr gegengesteuert werden kann. Mit ca. 8 Jahren können gelernte Gefahren bereits vorausschauend erkannt werden, am Ende der Volksschulzeit können Kinder bei gelernten Gefahren auch schon präventive Verhaltensweisen setzen.
Heranwachsende orientieren sich in ihrem Verhalten auch an starken Modellen wie z. B. den Erziehungsberechtigen, Geschwistern, usw.
sichereswissen: Sind Kinder schneller abgelenkt als Erwachsene?
Schützhofer: Obwohl Ablenkung in allen Altersgruppen eine große Rolle spielt, sind Kinder in der Tat schneller abgelenkt als Erwachsene. Das hat damit zu tun, dass ihre Aufmerksamkeitsressourcen noch nicht voll entwickelt sind und es ihnen dadurch schwerer fällt, Aufmerksamkeit zu fokussieren oder zu teilen.
Ablenkung im Straßenverkehr ist nicht nur ein Risiko für Kinder. Auch Erwachsene lassen sich leicht ablenken – vor allem vom Smartphone. Erfahren Sie mehr zum Thema Ablenkung und der neuen Kampagne von AUVA und KFV, um besonders junge Verkehrsteilnehmende für die Gefahr zu sensibilisieren. (Siehe Blog-Beitrag zum Thema Ablenkung als Hauptunfallursache)
sichereswissen: Vom Standpunkt der Verkehrssicherheit aus: Dürfen Kinder am Schulweg Musik hören?
Schützhofer: Aus Verkehrssicherheitsperspektive ist dies eindeutig abzulehnen. Musik hören verdoppelt die Reaktionsgeschwindigkeit, weil verkehrsrelevante Reize schlechter wahrgenommen werden.
sichereswissen: Sollten es Erwachsene auch sein lassen?
Schützhofer: Ja, auch sie sind dadurch leicht abgelenkt und haben eine stark verzögerte Reaktionsgeschwindigkeit. Besonders gefährlich wird es, wenn auch noch noise cancelling eingeschaltet ist. Noise canceling ist eine Technologie, durch die Hintergrundgeräusche zum Beispiel beim Musikhören mit Kopfhörern unterdrückt werden.
sichereswissen: Oft hängen Kinder am Schulweg durchgehend am Telefon, weil die Eltern mit dem Kind verbunden sein wollen. Bietet das mehr Sicherheit oder ist es nur der Anschein davon?
Schützhofer: Das ist leider nur der Anschein davon. Kinder können frühestens ab ca. 14 Jahren ihre Aufmerksamkeit teilen und sind durch das Gespräch mit den Eltern von der Verkehrswahrnehmung abgelenkt, was sehr rasch zu gefährlichen Situationen führen kann.
sichereswissen: Wie kann man Kindern helfen sich zu fokussieren, sich nicht ablenken zu lassen? Was können Erwachsene machen, um sich nicht ablenken zu lassen?
Schützhofer: Als Erwachsener kann man die Aufmerksamkeit der Kinder durch gezielte Fragen immer wieder auf die verkehrsrelevanten Dinge lenken und sie dadurch dabei unterstützen, auf den Straßenverkehr und ihre Verkehrssicherheit fokussiert zu bleiben. Als Erwachsener kann man zum Beispiel sein Smartphone und seine Kopfhörer bewusst in der Tasche lassen, um nicht abgelenkt zu werden.
sichereswissen: Woran erkennt man als Elternteil, dass das Kind bereit ist, den Weg allein zu gehen?
Schützhofer: Das Kind ist dann bereit, den Weg auch allein zu gehen, wenn es zuverlässig wiederholt auf alle verkehrsrelevanten Dinge achtet und dementsprechend richtig reagiert, ohne sich ablenken zu lassen. Überprüft werden kann, dies mit unserem 5-Schritte-Programm auf mein-sicherer-schulweg.at.
sichereswissen: Gibt es unterschiedliche Wahrnehmungsschwellen bei den Sinneswahrnehmungen? Reagieren Kinder mehr auf Reize des Gehörs oder eher des Sehens?
Schützhofer: Der Sehreiz dominiert sehr lange den Hörreiz. Dies bedeutet, dass Kinder, wenn ihre visuelle Aufmerksamkeit zum Beispiel auf ein faszinierendes Feuerwehrauto gerichtet ist, Zurufe oder Erklärungen nicht zuverlässig wahrnehmen. Deshalb ist es wichtig, sicherzustellen, dass mit dem Kind Blickkontakt besteht, wenn etwas erklärt wird. Erst im Alter von ca. acht Jahren wird auch das Gehör regelmäßig im Straßenverkehr miteingebunden.
Alle Sinneswahrnehmung und deren Verarbeitungen laufen bei Heranwachsenden langsamer. Für die Fahrschulausbildung wäre wichtig, dass klar ist, dass Kinder länger brauchen, um z. B. eine Querungsentscheidung zu treffen.
sichereswissen: Bislang hieß es immer, dass man herannahende Autos vor allem auch hört. Jetzt sind beispielsweise E-Autos verhältnismäßig leise. Wie macht man Kinder darauf aufmerksam? Oder ist das ein Problem für Erwachsene, die seit der Kindheit auf „laute“ Autos konditioniert sind?
Schützhofer: Nein, das Problem ist altersunabhängig. Wir alle müssen lernen, einen zusätzlichen Sicherungsblick zu machen, weil man nicht alle sich nähernden Fahrzeuge auch hören kann.
sichereswissen: Welche anderen Wahrnehmungselemente im Straßenverkehr haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Schützhofer: Fahrzeuge sind durch die E-Mobilität nicht nur leiser geworden, sie haben auch ein anderes Beschleunigungs- und Geschwindigkeitsverhalten. Wenn E-Bike-Fahrer:innen sich wesentlich rascher nähern als Radfahrer:innen ist das zum Beispiel eine Herausforderung für die Geschwindigkeits- und Distanzwahrnehmung bei der Wahl der sicheren Querungslücke.
Kinder sind ab dem letzten, verpflichtenden Kindergartenjahr beitragsfrei bei der AUVA unfallversichert – auch am Weg in den Kindergarten sowie später in die Schule und wieder nachhause. Was ist ein Wegunfall? Was sind die versicherten Wege? Was ist im Ernstfall zu tun? Infos hierzu liefert unser Blog-Beitrag "Vorsicht unterwegs! Wie vermeidet man Wegunfälle?"
sichereswissen: Worauf achten Kinder mehr im Gegensatz zu Erwachsenen? Worauf achten Kinder weniger im Gegensatz zu Erwachsenen?
Schützhofer: Kinder fokussieren sich im Unterschied zu Erwachsenen mehr auf funktionale und ästhetische Aspekte wie Gehsteigbreite, Sitzgelegenheiten, Sauberkeit und Pflanzen im Straßenraum. Sie achten auch mehr auf Luftqualität und Lärm und weniger auf verkehrssicherheitsrelevante Dinge. Verkehrssicherheit kommt bei Ihnen leider oft erst an letzter Stelle. Es ist unsere Aufgabe, ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf diesen Aspekt zu lenken.
Kinder nehmen die Infrastruktur ganz anders wahr. So ist etwa das System Straßenverkehr für Kinder absolut langweilig, weil man es nicht angreifen kann und auch nicht damit spielen kann. Verkehrsberuhigte Zonen nehmen Kinder nicht als solche wahr, ebenso wenig wie etwa Shared-Space-Konzepte. Kinder hätten viel lieber getrennte Wege für unterschiedliche Verkehrsbeteiligungen.
sichereswissen: Wie reagiert man richtig, wenn man mit einem Kind im Straßenverkehr zusammentrifft? Wie erklärt man die Gefahr und die möglichen Konsequenzen?
Schützhofer: Kinder lernen am Modell. Best practice wäre somit, mit gutem Beispiel voranzugehen und dem Kind das richtige Verhalten in einer bestimmten Situation vorzuzeigen. Erklärt man eine mögliche Gefahr, tut man dies am besten anhand der konkret vorliegenden Situation. So kann das Kind auch die möglichen Konsequenzen leichter verstehen und nachvollziehen.
sichereswissen: Wie erklärt man Kindern, dass sich viele Erwachsene nicht an die Verkehrsregeln halten – speziell auch Fußgänger:innen?
Schützhofer: Am besten ist es, dem Kind zu helfen, sich gut auf den Straßenverkehr zu fokussieren und alles richtig zu machen. Wichtig ist auch die Erklärung, warum dies wichtig ist. Die Fehler der anderen sollen nicht überbetont werden. Ein kurzer Hinweis: "Ja, leider machen auch Erwachsene manchmal Fehler" reicht. Dann sollte man gleich wieder auf das korrekte Verhalten umlenken. "Wir bemühen uns jetzt aber, alles richtig zu machen. Das ist wichtig, weil ... (kannst du mir das schon erklären?)."
Erwachsene müssen mit gutem Beispiel vorangehen - so lernen Kinder das richtige Verhalten im Straßenverkehr am besten!
sichereswissen: Sind Österreichs Straßen kindergerecht gestaltet? Wo gibt es Verbesserungspotential, um auf die Wahrnehmungspotentiale aller Altersgruppen einzugehen?
Schützhofer: In den letzten Jahrzehnten gab es diesbezüglich viele Bemühungen, wovon zahlreiche Richtlinien für den Straßenverkehr zeugen, welche bei Infrastrukturumgestaltung auch berücksichtigt wurden. Nachdem der Fokus im Straßenbau aber sehr lange Kfz-fokussiert war, bleibt nach wie vor viel zu tun. Verbesserungsvorschläge enthält zum Beispiel die derzeit in der Letztabstimmung befindliche Richtlinie für kinder- und jugendgerechten Verkehr.
Über Mag. Dr. Bettina Schützhofer
Gemeinsam mit ihrem Team aus Verkehrspsychologen:-psychologinnen beschäftigt sie sich seit Jahren mit dem Thema Verkehrssicherheit in den Bereichen verkehrspsychologische Diagnostik, Nachschulung, Prävention, Mobilitätserziehung, Forschung und Lehre. Auf https://www.sicherunterwegs.at/ gibt es ein großes Angebot an Schulungen unter anderem im Bereich Verkehrserziehung für Kindergartenkinder, Schüler:innen, Eltern und Pädagogen:Pädagoginnen.
Weiters gibt es auf der interaktiven Lernplattform "mein sicherer Schulweg.at", einer Kooperation von sicher unterwegs und AUVA, zahlreiche Infos rund um den Schulweg und wie man Kinder am besten vorbereitet. Hier finden Sie unter anderem das 5-Schritte-Programm, Schulwegpläne und es gibt die Möglichkeit sich individuell beraten zu lassen.
Bei Fragen zum Thema steht Ihnen das AUVA-Präventionsteam gerne zur Verfügung. Kontaktieren Sie uns unter sichereswissen@auva.at