Evaluierung psychischer Belastung am Arbeitsplatz: Problemfelder identifizieren und Maßnahmen ergreifen
Arbeitsbedingte psychische Belastung ist seit der ASchG-Novelle 2013 ein wesentlicher Teil der Arbeitsplatzevaluierung. Erfahren Sie, warum die Evaluierung dieser Belastung entscheidend für die Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeitenden ist und welche Verfahren für die Evaluierung zur Verfügung stehen.
Die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz hat mit der Novelle des Arbeitnehmer:innenschutzgesetzes (ASchG) 2013 in der Prävention an Bedeutung gewonnen. Seither sind im Zuge der Gefahrenverhütung sowohl physische als auch psychische Belastungen, die zu Fehlbeanspruchungen führen, zu berücksichtigen. Gesundheit umfasst dabei sowohl physische als auch psychische Aspekte.
Psychische Belastung – was genau ist das?
Psychische Belastung umfasst alle äußeren Einflüsse, die auf eine Person einwirken und ihre Psyche beeinflussen. In den deutschsprachigen Arbeitswissenschaften hat sich weitgehend das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept durchgesetzt, das zwischen Belastung (Einwirkungen) und Beanspruchung (Auswirkungen) unterscheidet.
Die ÖNORM EN ISO 10075 „Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung” definiert in Teil 1 die wichtigsten Begriffe im Bereich der psychischen Arbeitsbelastung.
Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf einen Menschen zukommen und diesen psychisch beeinflussen.
(ÖNORM EN ISO 10075:1, S.6)
Die Norm verwendet den Ausdruck „psychisch“, wenn auf Vorgänge des menschlichen Erlebens und Verhaltens Bezug genommen wird. So bezieht sich der Begriff auf kognitive (geistige) und emotionale (gefühlsmäßige) Vorgänge im Menschen. Der Ausdruck „psychische Belastung“ wird verwendet, weil kognitive und emotionale Prozesse miteinander in Beziehung stehen.
Beispiele für psychische Belastungsfaktoren sind
- hohe Informationsdichte
- fehlende Unterstützung von Führungskräften und Kollegen:Kolleginnen
- fehlende Einschulung, z. B. in Software
- häufige Störungen durch technische Probleme
- wiederholte Unterbrechungen durch E-Mails, Telefonanrufe, Chat-Nachrichten.
Beanspruchung ist hingegen die unmittelbare Auswirkung der psychischen Belastung auf eine Person. Sie hängt vom aktuellen Zustand der Person ab und kann sowohl kurz- als auch langfristig förderliche als auch beeinträchtigende Auswirkungen haben.
Psychische Belastung evaluieren – darum geht’s!
Bei der Arbeitsplatzevaluierung gemäß ASchG geht es darum, psychische Belastung am Arbeitsplatz zu ermitteln, zu beurteilen und Maßnahmen zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen abzuleiten und umzusetzen. Betrachtet werden dabei vor allem jene Arbeitsanforderungen und -bedingungen, die im Arbeitsalltag zu Problemen führen können. Nicht bewertet werden die Persönlichkeit, Leistungsfähigkeit oder die Gesundheit der Beschäftigten.
Bei der Maßnahmenentwicklung ist das STOP-Prinzip anzuwenden. Dieses gibt vor, dass in der Prävention zuerst die Arbeitsbedingungen sicher und gesundheitsförderlich gestaltet werden, bevor personenbezogene Maßnahmen gesetzt werden.
Substitution (Ursachen für Fehlbeanspruchungen, wie z. B. Störungen/Unterbrechungen, beseitigen)
Technische Maßnahmen (technische und bauliche Lösungen zum Schutz der Arbeitnehmer:innen vor Aggression und Gewalt)
Organisatorische Maßnahmen (Arbeitsabläufe und Arbeitsprozesse anpassen)
Personenbezogene Maßnahmen (z. B. Schulungen oder Trainings anbieten, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.)
Die Wirksamkeit der gesetzten Maßnahmen ist zudem gemäß ASchG zu überprüfen und die Evaluierung anzupassen und zu dokumentieren.
Wichtig:
Im Rahmen der Arbeitsplatzevaluierung nach ASchG wird nur die psychische Belastung ermittelt und bewertet – die Beanspruchung und deren Folgen sind nicht Ziel der Erhebung oder Bewertung.
Verfahren zur Evaluierung psychischer Belastung
In der Folge werden standardisierte Verfahren vorgestellt, die den Anforderungen der ÖNORM EN ISO 10075 entsprechen und österreichischen Betrieben von der AUVA kostenlos zur Verfügung gestellt werden:
Verfahren
Der Kurz-Fragebogen zur Arbeitsanalyse (KFZA) ist ein arbeitspsychologischer Fragebogen, der 1995 als Instrument zur Ermittlung psychischer Belastung in der Arbeitssituation entwickelt und veröffentlicht wurde. Es handelt sich um ein theoretisch fundiertes, standardisiertes, quantitatives Verfahren der Verhältnisprävention, das bereits langjährig in der betrieblichen Praxis im Einsatz ist. Seit 2014 wird das Verfahren für Betriebe in Österreich kostenlos als Online-Tool zur Evaluierung psychischer Belastung angeboten.
Der KFZA ist ein subjektives Erhebungsinstrument, d. h. er liefert Informationen über das Erleben der Arbeitssituation aus der Sichtweise der Beschäftigten. Der KFZA ist ein „Screening-Verfahren“, mit dem positive und negative Einflüsse der Arbeits- und Organisationsstruktur in Bezug auf das Vorliegen psychischer Belastung erfasst werden können.
Das Verfahren besteht aus 26 einzelnen Items (Fragen), die von den Befragten auf einer fünffach gestuften Skala bewertet werden.
Die Fragen lassen sich den folgenden Hauptaspekten zuordnen:
- Arbeitsinhalt (Vielseitigkeit, Ganzheitlichkeit),
- Ressourcen (Handlungsspielraum, Soziale Rückendeckung und Zusammenarbeit),
- Stressoren (Qualitative und quantitative Arbeitsbelastung, Arbeitsunterbrechungen und Umgebungsbelastungen) und
- Organisationsklima (Information und Mitsprache, betriebliche Leistungen).
(Prümper, Hartmannsgruber & Frese, 1995)
Das Instrument ABS-Gruppe der AUVA ermöglicht ohne schriftliche Befragungen und Auswertungen die systematische Erhebung und Bewertung von psychischen Belastungsfaktoren sowie der Maßnahmenentwicklung in einer Gruppe. Sie ist besonders geeignet für kleine Betriebe und für Bereiche, die Gruppeninterviews durchführen wollen. Das Verfahren wurde speziell für kleinere Unternehmen entwickelt, für die eine Befragung mit einem Fragebogen weniger sinnvoll ist, kann aber auch in größeren Betrieben eingesetzt werden.
Die Inhalte beruhen auf theoretisch fundierten und gesicherten arbeitspsychologischen Konzepten darüber, welche Aspekte der Arbeitswelt psychisch belastend sein können (ÖNORM EN ISO 10075-1). Die ABS-Gruppe besteht aus den vier Subskalen Arbeitsmerkmale, Organisationskultur, Arbeitsumgebung und Arbeitszeit / Arbeitsabläufe. Jede Subskala enthält fünf bzw. sechs Items, sodass sich insgesamt 22 Items ergeben. Die Auswertung gibt Auskunft darüber, in welchen Bereichen und in welchem Ausmaß beeinträchtigende psychische Belastungen am Arbeitsplatz vorliegen oder nicht. Je höher die Werte in der Skala, desto höher das Risiko einer psychischen bzw. gesundheitlichen Beeinträchtigung und desto höher ist der Handlungsbedarf.
Ein besonderer Vorteil des Verfahrens liegt in der Einheit der Erhebung, Bewertung und Maßnahmenentwicklung in rund 4 Stunden.
(Molnar, Prinkel, Friesenbichler, 2012)
Das Interviewverfahren EVALOG wurde im Auftrag der AUVA von den beiden Arbeitspsychologen:-psychologinnen Jochen Prümper und Julia Vowinkel entwickelt und steht seit März 2019 österreichischen Betrieben kostenlos für die Evaluierung psychischer Belastung zur Verfügung.
Im Rahmen einer Kooperation mit österreichischen Kleinstbetrieben sind bei der schrittweisen Entwicklung des Verfahrens praktische Erfahrungen und Rückmeldungen in die finale Version eingeflossen. Durch diese mehrstufige und partizipative Vorgehensweise wurden die Bedürfnisse der Kleinstbetriebe besonders berücksichtigt – das Ergebnis ist nun ein praxisnahes und anwender:innenfreundliches Verfahren. Praktische Beispiele aus Testbetrieben, wichtige Hinweise und Erfahrungswerte aus der Entwicklungsphase sind zur Unterstützung der Anwender:innen im Handbuch festgehalten.
Herzstück von EVALOG ist der bereits weiter oben beschriebene Kurz-Fragebogen zur Arbeitsanalyse (KFZA von J. Prümper, K. Hartmannsgruber und M. Frese), der die inhaltliche Grundlage für den Dialog bzw. das Gespräch über Ressourcen und Stressoren im Arbeitsalltag bildet.
- Das Evaluierungsheft begleitet durch den gesamten Prozess der Evaluierung – von der Vorbereitung über die eigentliche Ermittlung, Beurteilung, Maßnahmenableitung und -umsetzung bis hin zur Wirksamkeitskontrolle der umgesetzten Maßnahmen.
- Die 26 Items beziehungsweise zu bewertenden Aussagen werden mittels Ampelsystem ausgewertet und führen damit gut nachvollziehbar zu Ergebnissen.
- EVALOG kann als Leitfaden für einen Dialog zwischen einem:einer Evaluierer:in und einem:einer Arbeitnehmer:in, aber auch für ein Gespräch mit bis zu drei Mitarbeiter:innen eingesetzt werden.
- Der Dialog bzw. das Gespräch kann von dem:der Arbeitgeber:in beziehungsweise auch einer anderen geeigneten Person im Betrieb geleitet werden.
Evaluierung psychischer Belastung – keine einmalige Angelegenheit!
Da sich viele Mitarbeiter:innen zunehmend überlastet fühlen, besteht erhöhter Handlungsbedarf für die Unternehmen. Auch jene, die bereits eine Erstevaluierung durchgeführt haben, sind gefordert, auf aktuelle Entwicklungen im Unternehmen einzugehen und die Arbeitsbedingungen fortlaufend zu verbessern. Mögliche Faktoren, die zu einer veränderten Belastung im Unternehmen führen können, sind z. B.
- Arbeitsverdichtung mit steigenden Leistungsanforderungen und Zeitdruck
- Entwicklung neuer Arbeitsformen, insbesondere mit Zunahme an Informations- und Kommunikationstechnologie (Entgrenzungsphänomene, Mobile Arbeit) & zugleich Intensivierung und Extensivierung von Arbeit
- Notwendigkeit ständiger Anpassung an neue Arbeitsmittel und neue Arbeits- und Organisationsformen
- Wechsel der Inhalte und der Rahmenbedingungen der Arbeit (z. B. Projektarbeit, befristete Arbeitsverträge, Variabilität der Arbeitszeit etc.)
- Dienstleistungsorientierung: Anpassung an Ansprüche von Kunden:Kundinnen, Anforderungen an Mitarbeitende schnell und flexibel zu handeln
- Kostendruck: Notwendige Beachtung von Effizienz- und Wirtschaftlichkeitskriterien
- Angst vor Arbeitsplatzverlust
Neue Herausforderungen
Die rasante Entwicklung neuer Technologien und Arbeitsmittel erfordert eine kontinuierliche Anpassung. Mitarbeitende müssen sich ständig auf neue Tools und Organisationsformen einstellen, was zusätzlichen Stress verursachen kann. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit und damit auch auf die Arbeitsplatzevaluierung werden zwar vermehrt thematisiert, die Praxis zeigt jedoch, dass entsprechende Belastungsfaktoren noch zu wenig systematisch in die Arbeitsplatzevaluierung einbezogen werden.
Einige der aktuellen Themen, die im Zusammenhang mit psychischer Belastung am Arbeitsplatz besonders relevant sind:
- Telearbeit und hybride Arbeit: Die Belastung durch Telearbeit oder hybride Arbeit steht derzeit im Fokus. Die Trennung von Beruf und Privatleben verschwimmt, was zu zusätzlichem Stress führen kann.
- Automatisierung von Aufgaben: Die Automatisierung verändert die Arbeitswelt. Während sie einige Aufgaben erleichtert, kann sie auch Unsicherheit und Anpassungsdruck bei den Mitarbeitenden erzeugen.
- Arbeit mit KI-basierten Systemen oder fortgeschrittener Robotik: Auch der Einsatz Künstlicher Intelligenz und die Integration fortschrittlicher Robotik am Arbeitsplatz bringen neue Herausforderungen mit sich. Digitale Systeme müssen entsprechend menschlicher Leistungsvoraussetzung gestaltet sein. Der Einsatz dieser Systeme fordert auch eine passende Einschulung der Arbeitnehmer:innen.
Die Automatisierung von Aufgaben, die Arbeit mit KI-basierten Systemen oder fortgeschrittener Robotik sowie der Einsatz intelligenter digitaler Systeme zur Verbesserung des Arbeitnehmer:innenschutzes werden Betriebe und Experten:Expertinnen im Arbeitnehmer:innenschutz im Allgemeinen und bei der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastung im Besonderen zunehmend beschäftigen. Die AUVA bietet Betrieben im Rahmen der aktuellen Präventionskampagne “Gemeinsam sicher digital” Beratung, Informationen, Unterlagen und Möglichkeit zum gemeinsamen Austausch über den Arbeitnehmer:innenschutz im Zusammenhang mit diesen neuen Themen.
Mehr Infos zum Thema
Literatur:
- Molnar, M., Prinkel, M. & Friesenbichler, H. (2013). Evaluierung psychischer Belastungen. Die Arbeits-Bewertungs-Skala – ABS Gruppe. AUVA: Wien.
- ÖNORM EN ISO 10075-1: 2018-01. Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung – Teil 1: Allgemeine Aspekte und Konzepte und Begriffe. Österreichisches Normungsinstitut: Wien.
- Prümper, J., Hartmannsgruber, K. & Frese, M. (1995). KFZA – Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie.
- Prümper, J. & Vowinkel, J. (2019). EVALOG – Evaluierung psychischer Belastung im Dialog nach dem österreichischen ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) für Kleinstbetriebe. AUVA: Wien.
Sie haben Fragen zur Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz? Das Präventionsteam der AUVA steht Ihnen gerne beratend zur Seite. Kontaktieren Sie uns unter sichereswissen@auva.at